fairkehr VCD-Magazin für Umwelt, Verkehr, Freizeit und Reisen

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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Titel 1/2015

Porträts

In der Stadt braucht man kein Auto

Foto: Valeska ZeppTypische Alltagsmobilität im Stadtzentrum: Rad fahren, zu Fuß gehen, Bus und Bahn nutzen

Wir sind auf dem Land groß geworden und genießen es, in der Stadt alles spontan und ohne großen Aufwand erreichen zu können”, sagen Melanie und Stephanie Zepp. Die Zwillingsschwestern wohnen in Köln-Ehrenfeld – im selben Haus, aber in getrennten Wohnungen. Das Viertel im Westen der Domstadt bietet alles, was die beiden zum Leben brauchen: kleine Geschäfte, Fitnessstudio, Kino, Cafés, Kneipen und Clubs. Auch Kiosk-Büdchen, türkische Gemüsehändler, Supermarkt, Asia- und Bioladen liegen um die Ecke. „Die Mietpreise im Kölner Zentrum sind schon knackig. Aber dafür spare ich Mobilitätskosten, weil ich das meiste zu Fuß erledige. Und für das Pendeln zur Arbeit nutze ich den Zug. Ich promoviere an der Universität in Wuppertal. Das Semesterticket und der nahe Ehrenfelder Bahnhof machen das Pendeln einfach und günstig”, sagt Melanie.

Stephanie fährt mit dem Rad zur Arbeit. Ihr Büro liegt in der Innenstadt, sie ist in zehn Minuten dort. „Bei schlechtem Wetter kann ich super bequem mit der U-Bahn fahren. Ein Auto brauche ich nicht. Oft ist man mit dem Fahrrad eh schneller unterwegs, vor allem, weil die Parkplatzsuche wegfällt. An Ehrenfeld gefällt mir, dass es bunt gemischt und lebendig ist. Das Viertel veranstaltet regelmäßig Straßen- und Nachbarschaftsfeste. Im letzten Jahr haben wir den Tag des guten Lebens gefeiert: An einem Sonntag wurden die Autos aus dem Viertel verbannt, stattdessen haben alle Tische und Stühle rausgestellt und auf der Straße gefrühstückt”, sagt die 29-Jährige.

Radfahrer im Viertel Vauban

Foto: Marcus GlogerHannes Linck zog vor 15 Jahren von Berlin in das Freiburger Viertel Vauban, um ökologische Wohn- und Mobilitätspläne in die Tat umzusetzen.

„Eigentlich wohnen wir wie in einem Dorf”, sagt Hannes Linck. Er lebt mit seiner Familie im weltweit beachteteten Öko-Quartier Vauban am Rande von Freiburg. Etwa 5000 Menschen wohnen dort. Autos spielen eine Nebenrolle. Viele Straßen gehören spielenden Kindern, Radfahrerinnen und Fußgängern. Nur entlang der Erschließungsstraßen gibt es Parkplätze – für Besucher. Die Bewohner sollen ihre Autos in Sammelgaragen am Rand des Viertels abstellen. Der Weg zum Auto ist oft weiter als der zur Stadtbahnhaltestelle. „Ich nehme, wie viele im Viertel, das Rad – selbst für Strecken, die man auch zu Fuß gehen könnte”, sagt der 60-jährige Wahl-Freiburger. „Wir machen auch keinen Großeinkauf, sondern kaufen zwei-, dreimal die Woche kleinere Mengen ein.” Für Großes oder Schweres leiht sich Linck einen der Fahrradanhänger im Quartier.

Das Viertel macht seinen Bewohnern die Alltagsmobilität leicht: Einkauf, Kinderbetreuung, Treffen in Kneipe oder Café, Zahnarztbesuch, Physiotherapie – alles ist innerhalb von Vauban möglich. Selbst das Arbeiten im Quartier ist durch Büroflächen für viele möglich. Linck führt einen kleinen Verlag und arbeitet teils im Heimbüro, teils für den VCD-Regionalverband im Zentrum Freiburgs. Für Termine weiter weg steigt er einfach in den Zug.

Autofahrerin wider Willen

Foto: Benjamin KühneManchmal verlangt ein neuer Job die Entscheidung: Umziehen oder Auto kaufen?

Nachdem ich den Führerschein gemacht habe, bin ich zehn Jahre lang nicht Auto gefahren. Leider ist der Wagen für mich inzwischen unverzichtbar geworden, um morgens rechtzeitig zur Arbeit zu kommen”, sagt Lea Zimmermann, die im hessischen Weilmünster als Assistenzärztin arbeitet. Das Krankenhaus in der 9000-Einwohner-Gemeinde kann die 30-Jährige von ihrer Wohnung in Gießen aus nur schwer mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichen. Um pünktlich ab acht Uhr am Arbeitsplatz zu sein, müsste sie um 4:30 Uhr am Gießener Bahnhof losfahren und dreimal umsteigen. Dabei liegt Gießen gerade einmal gut 35 Kilometer von Weilmünster entfernt und ist die größte Stadt in der näheren Umgebung.

„Als ich die Stelle angenommen habe, stand ich vor der Wahl: entweder umziehen oder ein Auto kaufen”, sagt die junge Ärztin. Eine regelmäßige Fahrgemeinschaft mit Kollegen kann sie nicht bilden, da sie als Teilzeitkraft andere Arbeitszeiten hat. „Ein Umzug nach Weilmünster kommt für mich nicht in Frage. Ich wohne gerne in Gießen. Hier habe ich meinen Freundeskreis und eine schöne Wohnung. Einkaufsmöglichkeiten und ein umfassendes kulturelles Angebot kann ich zu Fuß oder mit dem Fahrrad erreichen”, sagt Zimmermann. Heute fährt sie regelmäßig, aber ungern Auto. Lieber wäre sie mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs.

Automobil und zu Fuß auf dem Land

Foto: Marco RothbrustIn der Vulkaneifel steht die Kirche noch mitten im Dorf: Zum Kommunions-unterricht ­können die Kinder heute genau wie ihre Eltern damals zu Fuß gehen.

Ich habe nie darüber nachgedacht, woanders zu wohnen. Hier bin ich aufgewachsen, hier gehöre ich hin“, sagt Jan Soetebier, der mit seiner Frau Nadine und den Kindern Jannik und Pia in Bell lebt, einem Dorf in der Vulkaneifel mit 1500 Einwohnern. „Man hat seine Ruhe und trotzdem ist es nicht weit bis zur nächsten Stadt – wir wohnen hier ja nicht völlig abseits“, sagt der 41-Jährige. Aber Stadtbummel, Einkaufen, die Kinder zum Training fahren, Arztbesuche, der Arbeitsweg – das erledigen seine Frau und er alles mit dem Auto beziehungsweise mit zwei Autos.

Die Kinder fahren zwar mit dem Schulbus. Aber die Eltern sind berufstätig und da war bisher ein zweites Auto nötig. Soetebier hat bis vor einem Monat noch im Schichtdienst bei einer Firma in Andernach gearbeitet, das ist ungefähr 16 Kilometer entfernt. Jetzt arbeitet er bei der Gemeinde und kann zu Fuß zur Arbeit gehen. „Autos sind für mich ein reines Fortbewegungsmittel. Wir überlegen, das zweite abzuschaffen. Das brauchen wir jetzt nicht mehr und die Kosten können wir uns sparen“, sagt er. Als er Kind war, gab es in Bell noch zwei Metzger, zwei Bäcker, Friseur und Post, zwei Lebensmittelgeschäfte, einen Blumenladen und mehrere Kneipen. Seine Kinder können heute zum Glück noch im letzten verbliebenen Geschäft – einer Bäckerei – Brötchen und Zeitschriften kaufen. Das machen die beiden mit den Fahrrädern. Mit seinen Freunden trifft Soetebier sich in der letzten Beller Kneipe. Wer weiß, wie lange noch – die Besitzer nähern sich dem Ruhestand.

Benjamin Kühne und Valeska Zepp

fairkehr 5/2023