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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Titel 1/2013

Multilaterale Bahnbeziehung

Die Regionalbahn „Haller Willem“ erobert Autofahrerherzen – und das sogar länderübergreifend.

Foto: Detlef HeeseNeue Züge, ­schickes Design, schöne Bahn­-höfe: Der „Haller Willem“ überzeugt auch die eher autoaffinen Ostwestfalen.

Die Pkw-Dichte in vielen Gegenden Ostwestfalens und des Osnabrücker Lands liegt über dem Bundesdurchschnitt. Parkdruck kennt man in dieser ländlichen Gegend außerhalb der Stadtzentren kaum. Wer hier über bessere Verkehrsverbindungen spricht, meint die Autobahn A 33, auf die man in der Region sehnsüchtig wartet.

Wer würde unter diesen Bedingungen in eine abgewrackte Bahnverbindung investieren? Dem nach einem historischen Kutscher benannten „Haller Willem“ kam die Expo 2000 in Hannover zugute. Die „Initiative Haller Willem“, zu der sich mehrere Umwelt- und Fahrgastverbände zusammengeschlossen hatten – darunter auch mehrere VCD-Kreisverbände – kämpfte seit Anfang der 90er Jahre für die Reaktivierung der Verbindung zwischen Bielefeld und Osnabrück: zwei Großstädte als Anfang und Endpunkt, das Stahlwerk Georgsmarienhütte und namhafte Arbeitgeber wie der Süßwarenhersteller Storck oder die Bekleidungsfirma Gerry Weber an der Strecke, und dazu noch der Teutoburger Wald mit zahlreichen Ausflugsangeboten. Wenn sich hier nicht genügend Fahrgäste für eine Regionalbahn generieren ließen, wo dann?

Die Bahn als Standortvorteil

Das Projekt „Haller Willem – Regional­station Zukunft“ überzeugte und wurde als dezentrales Expo-Projekt 2000 anerkannt. Bis 2005 fuhr der Zug nur die knappe halbe Strecke von Bielefeld bis Halle/Westfalen. 2005 entfernte der damalige niedersächsische Ministerpräsident Christian Wulff eigenhändig den Prellbock, der den niedersächsischen vom nordrhein-westfälischen Teil der Strecke trennte. Seither fährt der „Haller Willem“ im Taktverkehr zwischen Bielefeld und Osnabrück hin und her.

Eine Million Fahrgäste nutzten den Zug im Jahr 2004. Im Jahr 2005 nach der Weiterführung bis Osnabrück stieg die Zahl der Fahrgäste auf 1,3 Millionen. Aber auch danach ging es weiter bergauf: Von 2005 bis 2010 konnte die Zahl der Fahrgäste auf der Gesamtstrecke noch einmal von 1,3 Millionen auf über 1,7 Millionen gesteigert werden – ein Zuwachs von über 30 Prozent.

„Die Bahn macht den Standort Bad Rothenfelde attraktiver. Für uns ist das so gut wie eine Autobahnanbindung“, sagt Sabine Leclercq-Schulte. Die Frau muss es wissen. Als Mitarbeiterin der Tourismusinformation von Bad Rothenfelde hat sie täglich mit Urlaubern zu tun. „Viele unserer Gäste kommen mit dem Zug. Früher konnte man mit der Bahn nur bis Osnabrück fahren. Von dort aus ging es dann umständlich mit Bussen übers Land“, erinnert sie sich. „Jetzt können unsere Besucher problemlos aus allen Richtungen über Bielefeld oder Osnabrück anreisen und von hier aus natürlich auch viele Ziele in der Umgebung bequem und umweltfreundlich per Bahn erreichen.“

30 Minuten bis Osnabrück, 45 Minuten bis Bielefeld: Dank „Haller Willem“ ist Bad Rothenfelde mit seinen vielen Freizeit- und Urlaubsangeboten wieder ein Stückchen näher an die Welt gerückt. „Wir sind sehr, sehr froh, dass es diese Bahnverbindung gibt“, betont Leclercq-Schulte.

Nicht nur das Kurleben profitiert, auch der Tagestourismus erlebt dank guter Erreichbarkeit einen Aufschwung. Lokaler Handel, Gastronomie und kleine Betriebe wie der Jazzclub Dissen-Bad Rothenfelde, der direkt am Bahnhof liegt, profitieren von der bequemen Anbindung zu den benachbarten Städten. Jazz-Fans aus der Umgebung kommen per Zug, um die international renommierten Jazz-Bands zu hören. So müssen sie auf das Bier zur Musik nicht verzichten und sind nach dem Konzert schnell wieder zuhause. „Lebensqualität durch Gleisanschluss“ versprach die „Initiative Haller Willem“ mit ihrem Expo-Projekt. Für den Ort Bad Rothenfelde ist das Konzept aufgegangen.

Mehr Wohnqualität

Kai Schulte, Fachgebietsleiter Fahrplan, Infrastruktur und Marketing beim Verkehrsverbund Ostwestfalen-Lippe, unterstützt die Vision von der Bahnverbindung, die Stadt und Land eng verknüpft und Leben und Arbeiten bequem zusammenbringt. „Vor allem der Aspekt der Siedlungsentwicklung im Zusammenhang mit der Bahnanbindung war und ist ein absoluter Erfolg“, sagt Schulte.

Inzwischen sind drei Wohngebiete an der Strecke entstanden, ein viertes ist in Planung – alle in direkter Nähe zu Bahnhöfen an der Strecke. „In den entsprechenden Immobilienanzeigen wird häufig mit dem Hinweis ‚Fußentfernung zum Bahnhof’ geworben“, sagt Schulte. „Die gute Bahnanbindung erhöht die Attraktivität der Wohnorte entlang der Strecke deutlich.“ Um zu vermeiden, dass zu viele Großstädter wegen der günstigeren Grundstückspreise aufs Land ziehen, wurden beim Verkauf der Grundstücke lokale Interessenten bevorzugt. „Die Idee war es, lebendige Wohnorte mit hoher Lebensqualität zu schaffen und keine Schlafstädte“, erklärt Schulte.

Circa 1300 Wohneinheiten sind seit dem Jahr 2000 im direkten Einzugsbereich der drei Bahnstationen Quelle-Kupferheide, Steinhagen-Bielefelder Straße und Halle-Künsebeck entstanden. Außerdem wurden Industriebrachflächen an der Bahnstrecke für Einzelhandel, Büros und Freizeiteinrichtungen genutzt. Kino, Bowlingcenter und Freizeitbad bereichern das Freizeitangebot der Region. Auch die zum Teil verfallenen Bahnhöfe und Lagerschuppen wurden instand gesetzt und bieten nun Raum für Shops, Gastronomie oder Betriebe.

Die reaktivierte Bahn­­strecke von Osnabrück nach Bielefeld verbindet Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen im Taktverkehr.

Das durch internationale Tennistourniere bekannt gewordene „Gerry-Weber-Stadion“ hat einen eigenen Haltepunkt bekommen. Wenn hier im April Joe Cocker auftreten wird, wird von den über 12.000 Zuschauerinnen und Zuschauern ein Teil mit der Eintrittskarte kostenlos mit dem „Haller Willem“ anreisen. Der Hallenbetreiber zahlt von jedem verkauften Ticket einen Beitrag fürs Kombiticket an die Verkehrsgemeinschaft. Ohne den Bahnanschluss wäre hier im ländlichen Raum das Verkehrschaos bei einer solchen Großveranstaltung perfekt.

Standortvorteil für Unternehmen

Jürgen Keil ist Fachbereichsleiter Planen, Bauen und Umwelt bei der Stadt Halle. Mit dem „Gerry Weber Stadion“ und dem Süßwarenhersteller Storck liegen zwei große Verkehrserzeuger in seinem Verantwortungsbereich. Dass die Bahnanbindung für solche Unternehmen einen Standortvorteil bringt, bezweifelt er allerdings. Den sieht er eher bei den Kommunen als bei den einzelnen Unternehmen. Der Wirtschaftsverkehr habe da doch noch andere Bedürfnisse, sagt der Planer. Der größte begrenzende Faktor für weiteres Wachstum beim „Haller Willem“: Die Strecke ist einspurig und mit dem im Halbstunden- oder Stundentakt verkehrenden Personenverkehr bereits so ausgelastet, dass keine Kapazitäten für Güterverkehr oder eine Taktverdichtung bleiben – auch wenn die Nachfrage durchaus gegeben wäre.

„Wir bräuchten mehr Begegnungspunkte, um Güterzüge zu ermöglichen“, erklärt Jörn Keck vom VCD Osnabrück, der die „Initiative Haller Willem“ mitbegründet hat und sich nun auch für die Weiterentwicklung der Strecke einsetzt. „Mehr Begegnungspunkte würden auch mehr Personenzüge ermöglichen, vor allem zwischen Dissen-Bad Rothenfelde und Osnabrück, wo der Zug bisher nur im Stundentakt fahren kann.“

Foto: Detlef HeeseHeute fahren an Werktagen knapp 6000 Menschen mit der Nordwestbahn auf der Strecke „Haller Willem“ am Teutoburger Wald entlang.

Klaus Besser, Bürgermeister der Gemeinde Steinhagen bei Bielefeld, bezweifelt die wirtschaftliche Relevanz des „Haller Willem“ – und der Bahn im Allgemeinen. „Heute geht alles über Lkw“, ist er überzeugt. Da viele in der Region denken wie er, wird das neue interkommunale Gewerbegebiet an der Gemeindegrenze zu Halle nun an der Autobahn und nicht an der Bahnstrecke gebaut.

Dass Firmen sich entlang einer Bahnstrecke ansiedeln oder Familien sich ih­ren Wohnort nach der Nähe zum Bahnhof aussuchen, kann Klaus Besser sich nicht vorstellen. „Da spielen andere Faktoren eine Rolle“, sagt der Ostwestfale. Ein „Mitnahmeeffekt“ sei das Zugfahren in der Region, aber auf keinen Fall ein Standortfaktor. Eine Ausnahme lässt er gelten: „Schüler nutzen den Zug gerne, um zu den Schulen in der Region zu kommen“, sagt der Bürgermeister.

Multilaterale Beziehungen

Das stimmt: Schülerinnen und Schüler sind gerne in den modernen Zügen unterwegs. Sie machen aber nur knapp ein Fünftel der Fahrgäste aus. An Wochentagen füllen vor allem Pendler die blau-gelb lackierten Züge. Viele kommen aus den kleinen Städten und ländlichen Gemeinden entlang des Teutoburger Walds und fahren zur Arbeit in die Stadt.

Genauso viele machen sich aber auch auf den umgekehrten Weg aus den Städten zu den Firmen entlang der Bahnstrecke: Über 2000 Mitarbeiter hat beispielsweise die Firma Storck in Halle. Die Firma hat einen eigenen Bahnhalt, 225 Storck-Mitarbeiter haben ein Jobticket. „Wenn sie an einem eher ländlichen Standort 2000 Mitarbeiter brauchen, dann finden sie die nicht in der direkten Umgebung“, erklärt Ralf Heidmann, Personalleiter bei Storck, das Interesse seiner Firma an einer guten Bahnverbindung in die benachbarten Städte. Viele seiner Kolleginnen und Kollegen kommen aus Bielefeld, Gütersloh und Osnabrück. „Dank ,Haller Willem‘ können sie in der Stadt wohnen und bei uns arbeiten“, sagt Heidmann. Dass Storck die Kosten fürs Bahnticket mit 50 Prozent bezuschusst und die gemeinsame Bahnfahrt die sozialen Kontakte zwischen den Mitarbeitern fördert, ist ein zusätzlicher Anreiz für die Job­­ticketnutzer.

Vom Land in die Stadt, von der Stadt aufs Land: Das Besondere am „Haller Willem“ ist, dass die Bahnverbindung zu allen Tageszeiten, an allen Wochentagen und in alle Richtungen genutzt wird. Auch am Wochenende, wenn Schüler und Pendler zuhause bleiben, ist der „Haller Willem“ überraschend voll. Dann fahren Familien zum Bummeln in die Städte und die Städter zum Wandern oder Radeln aufs Land. Neben den Pendlern machen Freizeitverkehr und Tourismus die größte Fahrgastgruppe aus. Die BahnRadRoute Teuto-Senne, die die Bahnlinie immer wieder kreuzt, ist inzwischen als „Qualtitätsroute NRW“ zertifiziert. Wenn das Angebot stimmt, lässt auch der eher autoaffine Ostwestfale das Auto gerne mal stehen.

Regine Gwinner

fairkehr 5/2023