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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Politik 6/2010

Bauen für Menschen

Der dänische Architekt und Stadtplaner Jan Gehl plädiert dafür, beim Städtebau immer den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen.

Foto: Island PressIn Australien, den USA und Skandinavien gilt Jan Gehl (74) seit vielen Jahrzehnten als Koryphäe der Stadtplanung für Menschen. An nahezu allen großen Rück­eroberungen des öffentlichen Raumes ist sein Büro beteiligt. In Deutschland kennt ihn nur eine interessierte Minderheit. „Das ist aber Ihr Problem, nicht meins“, sagt er lachend im fairkehr-Interview.

fairkehr: Städte sind für die Menschen da, nicht für Autos, lautet Ihr Credo. Was ist schiefgelaufen in den letzten Jahrzehnten?
Jan Gehl: Die Geschichte startete vor 50 Jahren, als ich mein Examen als Architekt und Stadtplaner machte. Es gab damals zwei starke Kräfte. Zum einen herrschte eine große Aufregung um den Modernismus. Die Stadt sollte eine Maschine sein. Wohnen, Arbeiten, Freizeit – all diese Funktionen sollten getrennt werden. Der Architekt und Stadtplaner Le Corbusier und seine Nachfolger gingen weg von der Straße als Lebensraum für Menschen. Die Straßen der mittelalterlich geprägten europäischen Stadt waren für sie eine Heimstatt des Drecks, voll mit Prostituierten und Kriminellen.

Was war die zweite starke Kraft?
Die zweite starke Entwicklung war die Invasion des Autos. Daraus entwickelten sich neue Berufsbilder: die modernen Stadtplaner und die Verkehrsplaner. Sie ignorierten die soziale Funk­tion von öffentlichen Räumen. Natürlich wollten die Menschen die Stadt weiter als Begegnungsraum, als Marktplatz nutzen. Sie wollten die Stadt genießen. Die Planer dachten, das würden die Menschen einfach so tun, ohne dass man darauf besonderes Augenmerk richten müsste.

Ist das nicht zu pessimistisch? Ein paar aufrechte Planer gibt es auch heute. Man plant nicht mehr ausschließlich die funktionsgetrennte Stadt.
Starke Strömungen schaffen immer auch eine Gegenbewegung. Trotzdem: Die meisten Architekten interessieren sich nicht für den Menschen. Es stimmt, der Modernismus ist ein bisschen aus der Mode gekommen. Aber in Osteuropa kann man ihn plastisch bewundern. Und in China und in anderen sich entwickelnden Ländern gehts weiter.

Was halten Sie von den gigantomanischen Planungen im Mittleren Osten oder der Architektur in Berlin am Potsdamer Platz?
Alle Architekten feiern die Form. Auch wenn die Gebäude inzwischen die Form von Parfumflaschen haben, wie in Dubai. Das ist keine Stadt, sondern eine Ansammlung von Parfumflaschen.

Und in Berlin?
Auch dort scheinen die Leute das Gefühl für Maßstab verloren zu haben. Ich denke und plane im 5-km/h-Maßstab, die meisten anderen im 60-km/h-Maßstab oder 100-km/h-Maßstab.

Der 5-km/h-Maßstab ist der der Fußgänger?
Ja, sie sind die wichtigsten Nutzer der Stadt. Das menschliche Maß ist fünf Kilometer pro Stunde. Wenn Sie Rad fahren – das akzeptiere ich auch noch als menschliches Maß –, ist das 15 km/h. Da werden viele kleine Dinge wichtig. Bei 60 km/h ist kein Platz und keine Zeit für die Dinge, die eine Stadt ausmachen. Architekten und Planer studieren Form und bauen Form, aber niemand studiert das Leben. Ich interessiere mich seit 40 Jahren dafür, wie Leben und Architektur interagieren, wie die Form das Leben beeinflusst.

Foto: Uta LinnertDie Metropolen wachen auf: Am Times Square in New York ist die erste Fußgängerzone entstanden – mit Unterstützung von Jan Gehl.

Im Autoland Deutschland brauchen wir Umweltargumente und die sozialen und ökonomischen Vorteile, um Entscheider auf die Beine zu bringen.
Sie denken zu sehr in vereinzelten Themen. Menschen müssen sich eingeladen fühlen in Städten. Wenn man den Menschen in der Stadtplanung als wichtigste Komponente berücksichtigt, von Anfang an sichtbar macht, bekommt man eine lebenswertere, eine sicherere, eine nachhaltigere und eine gesündere Stadt.

Kampagnen wie „Kopf an: Motor aus“ in Deutschland zeigen, dass die Mehrheit der Menschen mehr Platz für Fußgänger und Radfahrer möchte. Ist das aus Ihrer Sicht ein gutes Mittel, um lokale Regierungen in die richtige Richtung zu bewegen?
Am Anfang hilft das sicher. In Kopenhagen aber hat niemand mehr etwas gegen eine menschenfreundliche Stadtpolitik, weil sie schon lange etabliert ist. Es gibt hier keinen Aufschrei – höchstens einen kleinen –, wenn mal wieder ein paar Parkplätze weggenommen werden. Die Politiker stehen sehr fest zu dieser Politik.

Wie stößt man einen solchen Prozess an?
In Kopenhagen gab es Demonstrationen: Radfahrer trafen sich in den 70er Jahren wöchentlich zu Straßenblockaden. Ein linker Sozialist wurde Bürgermeister und fuhr 16 Jahre lang nur Rad. Ab da ging es los mit Programmen wie „Raus mit den Autos aus der Stadt“. Als später ein Freund von mir das Amt übernahm – er war Architekt und Liberaler –, ging das nahtlos weiter. Und heute haben wir den Beweis, dass die lebenswertesten Orte mit den glücklichsten Menschen die Städte sind, die nett zu Fußgängern sind. Es gibt gerade einen enormen Rückenwind für die menschliche Dimension in der Stadtplanung. Die Städte wachen nach und nach auf: Melbourne, New York, Vancouver, Zürich.

In Kopenhagen hatten Sie mit Ihrer Art der Stadtplanung Erfolg. Wie würden Sie einen Veränderungsprozess in Städten wie Bochum oder Wolfsburg starten?
Alle Städte verfügen über endlose Datenmengen ihrer Verkehrsströme. Aber kaum eine Kommune hat Daten darüber, wie Menschen ihre Stadt als Fußgänger oder Radfahrer nutzen. Sie müssen konkrete Ziele definieren. Wir haben hier in Kopenhagen einige sehr menschliche Ziele festgeschrieben: Wir wollen die fahrradfreundlichste Stadt der Welt werden, die Leute sollen 20 Prozent mehr zu Fuß gehen bis 2015 und 20 Prozent mehr Zeit auf Plätzen und Straßen verbringen – und nicht vor dem Fernseher oder Computer. Außerdem wollen wir 50 Prozent der Pendler aufs Fahrrad bekommen. Wichtig ist, dass Sie als Kommune Ihren Bürgern diese Ziele kommunizieren und ihnen klarmachen, dass die Stadt dadurch lebenswerter wird.

Angesichts schwindender Erdölreserven und Klimawandel haben wir in Berlin nicht 40 Jahre Zeit wie in Kopenhagen. Wie kommen wir schneller voran?
All den Widerspenstigen würde ich vorschlagen: Kommt drei Tage nach Kopenhagen. Ich würde ihnen die Plätze zeigen, die vorher vollgestopft mit Autos waren, und die Straßen, die vier Spuren hatten und jetzt nur noch zweispurig sind. Man braucht natürlich immer starke Persönlichkeiten, die etwas tun wollen. Meine zentrale Botschaft ist: Bauen Sie für die Menschen und Sie können alle Probleme lösen.

Interview: Michael Adler

Das Buch

Der fairkehr-Interviewpartner hat ein Buch über seine Projekte und Ziele geschrieben. 288 Seiten, Texte in Englisch, viele eindrucksvolle Bilder. Jan Gehl: ­Cities for People, ­Island Press 2010

fairkehr 5/2023